Ihr Leben ist anders und doch ist es schön. Manchmal ist sie nur da, manchmal mittendrin. Sie ist gern allein, mal mehr, mal weniger. Sie lebt nach einem Plan, doch manchmal bricht sie aus. Wenn sie aus dem Fenster sieht und weiß, dass sie mit ihren Füßen nicht den Boden berührt, dann hat sie das Gefühl, sie würde fliegen.
Eine Frau, betagteren Alters ist auf einer Reise. Einer Reise, die ihr Leben ist. Ein Leben im Zug. Mit einer Bahncard 100. Ihre Habseligkeiten verstaut in nur einer einzigen Tasche. Keine Wohnung, kein Mann, keine Kinder, keine Arbeit. Eine beste Freundin, die nicht weiß, dass sie im Zug lebt. Nur das tägliche Flaschensammeln in den deutschen Zügen um ihren Notgroschen aufzustocken. Abwechslung bieten die verschiedenen Mitreisenden, die Pendler, die sie immer wieder in den Zügen trifft. Mit ihnen unterhält sie sich, spielt mit ihnen oder genießt ein Frühstück, welches ihr ausgegeben wird. Ihr Leben führt sie zwischen Umsteigen, Bahnhöfen, Wartebereichen und kleinen Bistros, immer verbunden mit der unterschwelligen Angst, einen der nächsten Züge auf ihrem Plan nicht zu erreichen.
In "Fliegen" beschreibt Albrecht Selge mit seiner Protagonistin ein Leben, welches für viele von uns nur sehr schwer vorstellbar ist. Ruhelos und gar orientierungslos kommt einem da als erstes in den Sinn. Doch im Grunde ist es das nicht. Das Leben der Protagonisitin, die namenlos im Roman lebt, ist minimalisiert. Sie beschränkt sich auf das Wesentliche und nicht auf den Ballast. Dennoch wird auch ein gewisser Widerspruch deutlich, denn so sehr sie sich mit dem Leben im Zug arrangiert hat, spürt man in einigen Zeilen den Wunsch nach einem "normalen" Alltag. Einem Alltag allerdings in dem sie nicht gewissen Zwängen ausgesetzt ist, in dem sie würdevoll behandelt wird. Ein Leben, dass hätte anders verlaufen können, vielleicht sogar müssen. Ihre Tasche ist nicht schwer, ihr Herz manchmal schon.
Der Schreibstil war etwas gewöhnungsbedürftig, was vor allem an den abgeschnittenen Sätzen liegt. Mein persönlicher Lesefluss wurde somit an einigen Stellen etwas ausgebremst. Allerdings wird so auch deutlich, wie wenig geradlinig das Leben der Protagonistin im Zug ist und das obwohl sie nach einem festen Plan fährt. Auch wenn sie es als eine Art Ruhezustand empfindet, sich im Zug in einer Art Fliegemodus zu befinden, so merkt man doch schnell, dass sie dennoch auf der Suche ist und sich ihre Gedanken und Gefühle von Zeit zu Zeit überschlagen. Doch Mitleid will der Autor nicht hervorrufen. Vielmehr schleichen sich Gedanken ein, die sich jeder stellen kann. Was wäre wenn? Wäre ein Leben im Zug eine Alternative? Wie sollte das funktionieren?
Für einige mag der Gedanke in einem Zug zu leben, etwas von Freiheit haben. In gewisser Weise ist die Protagonistin auch frei. In alltäglichen Dingen, wie dem Waschen der Wäsche, der Hygiene am eigenen Körper, dem Schlafen ist allerdings auch Improvisation gefragt. "Fliegen" ist eine Geschichte über das Weitermachen, dass nicht Unterkriegen lassen und das nach vorne schauen, auch wenn es nur zur nächsten Bahnverbindung ist. Es ist ein Roman, in dem die Protagonistin ihre Hoffnung und ihre Selbstachtung nicht verliert.
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Fliegen - Albrecht Selge
Belletristik - Gebundene Ausgabe - Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-737-10067-0 - Preis: 20,00 €